Weißt du, wann du hungrig oder satt bist? Was Überhunger und Übersättigung ist und wie es sich in körperlichen Symptomen bemerkbar macht?
Hungrig oder satt zu sein, sind zwei ganz natürliche Empfindungen. Ich weiß aber auch, dass Hunger und Sättigung eine noch größere Aussagekraft haben, wenn sie (wie in der Essstörung) an Belohnung oder Verzicht gekoppelt sind. Was meine ich damit?
Hunger war bei mir lange Jahre eine Voraussetzung dafür, um überhaupt etwas zu essen. Aus einem einzigen Grund: ich wollte vermeiden, über meine "Darf-Menge" zu essen. Problem: mit meiner "Darf-Menge" deckte ich nicht einmal meinen "Überlebens-Soll". Schlimmer noch: die "Darf-Menge" wurde immer weniger. Und genau das ist auch eine große Gefahr in der Essstörung: diese kennt nämlich keine Grenzen und wir laufen Gefahr, den Moment zu verpassen, wo wir noch gegensteuern können – plötzlich haben wir unser Limit erreicht und es geht leider gar nichts mehr.
Hunger war für mich ein Folge-Gefühl – ausgelöst durch vorhergegangene Produktivität oder Leistung. Und ich durfte kein Hunger haben bzw. wollte mir den Hunger nicht eingestehen, wenn ich zuvor nichts getan habe. Bedeutet: ich nahm Einfluss auf ganz natürliche Prozesse und wollte sie (musste mich) kontrollieren. Aber warum? Weil einer meiner Glaubenssätze der Ansicht war, dass ich mich zügeln und bändigen musste: "Ich muss mich kontrollieren, sonst nehme ich zu." Anstelle von Vertrauen und Intuition rückten Verbote und Verzichte. Und so wurde aus einer anfangs vermeintlich harmlosen Diät eine masochistische Essstörung.
Ich habe mir selbst den Kampf angesagt und jede Natürlichkeit verloren. Gefangen zwischen Zwängen und Reglementierungen funktionierte ich nur noch (auf Sparflamme), aber lebte schon lange nicht mehr. Mein Leben war eine einzige Rechnung mit einem negativen Ergebnis am Ende des Tages. Was auch bedeutet, dass ich dem Hungergefühl mehr als einmal widerstehen musste. Und widerstehen zu können, gab mir ein Gefühl von Überlegenheit. Heute aber weiß ich, dass das genaue Gegenteil der Fall war und ich nicht überlegen, sondern der Essstörung unterworfen war. Ich glaubte, alles unter Kontrolle zu haben, dabei hatte ich rein gar nichts mehr in der Hand und war der Essstörung gänzlich ausgeliefert.
Und "satt sein" bedeutete (gemäß der Essstörung) auch immer die Gefahr, "zuzunehmen". Die Essstörung verknüpfte "Sättigung" also mit "Kalorien" und "Kalorien machen dick" (so die Meinung der Essstörung). Ziemlich dumm und sehr kurz gedacht ! Aber angstgetrieben durch die eigenen Glaubenssätzen wurde Essen nunmal Feind und Hungern und Verzicht die maßregelnde Instanz.
Was sagt uns das? Dass Hunger- und Sättigungsgefühl erst wieder richtig spürbar werden müssen. Und das bedeutet, dass wir die Angst überwinden und losgelöst von Hunger und Sättigung überhaupt erst einmal ins regelmäßige Essen kommen müssen: Struktur ist das Stichwort. Weniger denken, machen und sich so "Häppchenweise" einem normalen und gesunden Essverhalten annähern, damit Hunger und Sättigung in natürlicher Ausprägung auftreten.
"Essen kontrolliert nicht meinen Alltag, sondern es dient mir und meinem alltäglichen Leben!"
Wie fühlt sich Hunger an?
Du denkst vermehrt ans Essen, freust dich drauf (steigender Appetit), vernehmst ein leichtes Magenknurren und merkst, dass du langsam unkonzentrierter wirst und vielleicht gereizt reagierst. Extremer Hunger (=Überhunger) bedingt Schwindel, Zittern, Müdigkeit, Kälteempfinden, Kopfschmerzen, eine deutliche Konzentrationsschwäche und vermehrten Stress – wir sind anfälliger (sinkende Resilienz) und auch der Blutzuckerspiegel kippt: von einer Unterzuckerung spricht man ab 70 mg/dl und gefährlich wird es, wenn der Blutzuckerspiegel auf unter 50 mg/dl absinkt.
Deshalb ist es so wichtig, seinem Körper regelmäßig Energie und auch Kohlenhydrate zuzuführen – die Lebensenergie schlecht hin. Viele vergessen und unterschätzen, wie viel allein das Gehirn tagtäglich verbraucht: nämlich rund 120g Glukose und obwohl das Gehirn nur 2% des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es rund 20 % des Gesamtenergiebedarfs. Und da das Gehirn keine Glukose speichern kann, müssen wir es regelmäßig mit Kohlenhydraten versorgen. Langkettige Kohlenhydrate halten den Blutzuckerspiegel konstant, weil sie eine längere Verdauungszeit als kurzkettige Kohlenhydrate haben und deswegen sukzessive Glukose ins Blut abgeben. Außerdem bringen Lebensmittel mit langkettigen Kohlenhydraten (wie Vollkornprodukte) neben der Glucose auch andere wertvolle Nährstoffe mit sich. Wenn es aber mal schnell gehen muss und der Körper direkt Energie braucht (vor allem vor und während dem Sport) sind Einfachzucker die erste Wahl.
Glücklich gesättigt?
So sollte es sein! Denn der Körper ist es in Wahrheit, nur die Essstörung nicht. Mach dir das klar und du wirst bald wieder spüren, wie angenehm, zufriedenstellend, wärmend und befriedigend Essen sein kann. Und das auf eine ganz gesunde und nicht kompensierende Art und Weise. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ein gesundes und regelmäßiges Essverhalten pflegen und extreme Ausprägungen (Überhunger oder Übersättigung) vermeiden. Übersatt macht träge und müde, provoziert Magenschmerzen, Übelkeit und Stress. Die momentane Befriedigung und auch Beruhigung hält nur kurz an.
"Isst du schon oder kompensierst du noch?"
Essen hat keine Schuld und ist auch nicht die Lösung, wenn es um deinen inneren Mangel geht. Essen ist Leben und nicht Kompensation. Doch weil Essen auch Emotion ist (die wir uns geben oder verbieten), wird aus der natürlichen Selbstverständlichkeit (=Essen ist Freund) ein Bedrängnis (=Essen wird Feind). Zwischen Kontrolle und Habgier – wir verlieren den gesunden Bezug zum Essen und funktionieren, anstatt zu (er)leben. Dabei sind es doch LEBENsmittel!
Wie schaffst du eine gesunde Essenstruktur und respektierst die Zeichen deines Körpers?
Quellen: https://www.alimentarium.org/de/fact-sheet/das-gehirn-gut-ernaehren Eigene Mitschriften aus der Zeit in der Schön Klinik Bad Bramstedt, wo ich Ende 2020 in Behandlung war.