„Ich muss mich kontrollieren, sonst nehme ich zu…“

Warum nahm ich das an?

Dafür reisen wir gemeinsam zurück in meine Kindheit – zu der 14-15-jährigen Ramona.

Ramona hat immer gerne und viel gegessen, Ramona war immer gerne und viel draußen und hat sich bewegt, Ramona stand schon in der Grundschule immer gerne im Mittelpunkt bzw. auf der Bühne, wo sie für das jährliche Theaterstück jedes Mal die Hauptrolle an sich riss, fleißig machte sie ihre Aufgaben (keine 1er Schülerin, aber durchaus eine kleine Streberin), die bei den Lehrern gut dastehen wollte.

Zwischen ihrer Lebensfreude und positiven Energie, zwischen ihrem quirligen Freigeist, ihrer Neugierde und ihrer Begeisterungsfähigkeit schlich sich der Drang nach Anerkennung und Aufmerksamkeit.

Anstelle ihrer Vorfreude, Intuition und Sorglosigkeit rückten mehr und mehr Zweifel, Bedenken und Berechenbarkeit.
Sie stellte fest, was im Außen geschah, hätte sie nicht immer beeinflussen konnte, doch alles, was sie beeinflussen – kontrollieren – konnte, dass wollte sie auch kontrollieren.
Was bedeutete: Gut sein wollen, es richtig machen wollen, sich keine Fehler erlauben – ein Drang zur Perfektion, was jedoch eigentlich nicht zu ihrer Rastlosigkeit passte, denn nur schwer konnte Ramona die Geduld und Muße aufbringen, um sich nur einer Sache 100% zu widmen.

Selten also konnte sie eine Sache wirklich durchziehen und zu Ende bringen – und das war ihr bewusst. In keiner Sache war sie die Beste und wenn, dann immer „nur“ gut. Doch die Diät bot ihr die Gelegenheit, es sich und anderen zu beweisen.

Zwar ging es ihr anfangs wirklich nur darum, etwas abzunehmen (obwohl Ramona nie dick war) und doch war dieses „etwas mehr“ etwas zu viel, was eine Angriffsfläche bot, die sie niemanden einräumen lassen wollte – Ramona wollte perfekt sein.

Verzicht und Widerstand fühlten sich wie Gewinnen an und je länger Ramona widerstehen konnte, umso leichter und selbstverständlicher wurde diese Restriktion. Ramona wusste sich zu kontrollieren und dadurch fühlte sie sich geordnet, ihrer mächtig und stark. Verbote und Verzichte reglementierten ihr Dasein und boten den „perfekten“ Rahmen, knallhart, eisern und fehlerlos zu sein.

So wurde aus einer anfangs harmlosen Diät eine tiefgreifende Essstörung. Und damit Vorsicht: eine kurze, vermeintlich harmlose Diät, kann die Tür zur Hölle öffnen, durch die man unbemerkt tritt, die Tür hinter sich schließt, diese mit einem Schlüssel verschließt und den Schlüssel wegwirft – so aussichtslos fühlt sich die Essstörung nämlich irgendwann an.

Und trotzdem gab ihr die Essstörung ein sicheres Gefühl und setzte sich fest. Die Essstörung war ihr sicherer Hafen, ihre Orientierung, ihr suizidaler Leitfaden. Und genau das ist das Schlimme: Man hat nur noch Augen für die Essstörung und vergisst alles drum herum. Wobei anders: man vergisst das andere nicht drumherum, lässt sich aber keine Wahl – und das, obwohl man mehr oder wenig weiß, dass man auf direktem Weg Richtung Abgrund steuert und an deren Schlucht man schließlich ohne Absicherung balanciert.

Ramona, du bist dabei dich umzubringen!
Doch ich überhörte es einfach.

Ramona! Du bist dabei mich umzubringen (schrie mein inneres Kind).

Ich zuckte kurz und machte mit Anbruch des neuen Tages wie gewohnt weiter.

Frau Richter! Wir wissen nicht, ob sie morgen noch aufwachen (sagte mein Arzt).

Ich hielt inne, ich bekam das erste Mal Angst, doch ich machte weiter.

Ramona – keine Worte, aber langsam ein Gefühl, dass es so nicht weiter gehen kann, dass ich nicht mehr kann und das ich vor allem auch nicht ertragen kann, wie mich die Essstörung von meinen Eltern abhält, wie sie mich immer mehr einnimmt. Ja, ich war dabei mich umzubringen, ließ diese Wahrheit jedoch lange einfach nicht an mich heran.

Was hat mir schließlich geholfen, die Wahrheit an mich heranzulassen und damit auch die Liebe wieder zuzulassen?

Die Liebe war eigentlich mein stetiger Begleiter, vor allem, wenn ich bei meinen Eltern war und es dann nicht ertragen konnte, wenn die Essstörung wieder dazwischenfunkte und uns voneinander distanzierte. Aber auch in den späten Abendstunden, wo ich meinem Unterbewusstsein, meinem inneren Kind am nächsten war und das schlechte Gewissen dann teils unerträglich wurde und mich manchmal sogar zum Weinen brachte, spürte ich die Liebe und Sehnsucht in mir.

 Und genau diese Liebe, mein erschöpftes Herz (physisch wie psychisch) konnte und wollte das alles nicht mehr und drängte mich immer stärker dazu, etwas zu ändern, ins Handeln zu kommen – auch wenn anfangs noch widerwillig und in erster Linie, um meine Eltern ruhig zu stimmen. Aber auch ich wurde ruhiger, klarer, einsichtiger… ich fing an, zu fühlen.

Über diesen liebevollen Anker (=meine Eltern) kam ich ins Handeln und durch die regelmäßige Konfrontation damit, dass ich ein Problem habe (durch Familie, Freunde, Ärzte, Therapeuten), fühlte sich die Essstörung mehr und mehr auch wirklich nach einem Problem an.

Die ersten Schritte zurück zur Wahrheit.

 

Die ersten aktiven Schritte waren also Psychotherapien – auch wenn mich diese nur kurzzeitig aus meiner kranken Routine schupsten.

Gefolgt von einem einmonatigen Aufenthalt in der Schönklinik Bad Bramstedt, wo ich auch zum ersten Mal einsehen musste, dass ich wirklich einen Drang zur Perfektion hatte, auch wenn ich mich lange nie so eingeschätzt hatte. Aber genau diese „nicht-Perfektion“ wollte ich einst ja mit der Essstörung widerlegen bzw. ausleben: sie gab mir ein erhabenes Gefühl, doch in Wahrheit war ich ihr kraftlos unterlegen und ich hatte rein gar nichts mehr in der Hand – ganz im Gegenteil: ich gab mein Leben aus der Hand und hatte nichts mehr unter Kontrolle.

Nach der Klinik machte ich die RUSU bei Laura Malina Seiler, was mir vor allem dabei half, meine Glaubenssätze und Beweggründe der Essstörung zu hinterfragen und diese aufzulösen – der Essstörung damit also ihre Berechtigung zu nehmen: Ich muss mich nicht kontrollieren, ich darf mir vertrauen, ich darf dem Essen vertrauen. Ich und es muss nicht perfekt sein und ich darf mir Fehler erlauben.

Laura bzw. die RUSU half mir, nachsichtiger mit mir selbst zu sein und mein inneres Kind in den Arm zu nehmen, wertzuschätzen, was der eigene Körper leistet und sich ihm dankbar und liebevoll zuzuwenden. Ich näherte mich meiner an, denn davor funktionierte ich völlig losgelöst von mir selbst. Ich konnte richtig spüren, dass ich mich wieder mit meinem Körper verbinden muss.

Während der RUSU bröckelte meine innere Strenge weiter und der Wahrheitskern wurde freigelegt und damit meine Verletzlichkeit, die Erschöpfung, der Lebenshunger, sodass mich auch die Worte von meinem Hausarzt („Wir wissen nicht, ob sie morgen noch aufwachen“) endlich auch im Herzen erreichten, mich beunruhigten, mir Angst machten.
Und über diese gesunde Angst konnte ich mich eigentlich freuen – auch wenn das Gesagte alles andere als erfreulich war und doch bot mir diese Angst die letzte Chance, wirklich etwas zu ändern.
Aber mir war auch klar – was letzten Endes auch entscheidend war – dass ich es nicht alleine in der Hand hatte: Mein Körper behielt das letzte Wort und ich wusste, dass nur mit seiner Zustimmung, es noch einen Weg aus der Aussichtslosigkeit gab. 

 

Und das war der Beginn von einem ehrlichen, neuen Teamwork.

Mein bester Freund, der all die Jahre immer mein bester Freund war, nur den ich alles andere als freundschaftlich behandelt habe. Ich hatte den stärksten Sparringspartner an meiner Seite, um meinen Weg zurück ins Leben zu finden, denn die ganze Wahrheit steckt in mir, in meinem Körper und genau da wollte ich wieder hin.

Doch wie finden wir zu unserer inneren Wahrheit und damit auch ins wahre Leben zurück und zu unserem eigentlichen Potenzial?

1. Du musst ins Machen kommen, denn erst das Machen kann dich vom Gegenteil überzeugen und dir die Angst nehmen und damit auch den Weg in dir frei legen, um deine Wahrheit wieder zuzulassen. Und das verlangt in erster Linie Mut.

2. Das Leben zeigt dir wie: Mach mit und lass dich vom Leben leiten.

3. Wenn du auf etwas Appetit hast, dann freue ich dich zuerst einfach nur über dieses Gefühl, weil in diesem Moment dein Körper wieder zu dir spricht. Selbstverständlich kommst du diesem Verlangen dann auch nach, anstatt ihn dir, wie sonst, einfach auszureden oder/und zu ignorieren. Auf diese Weise näherst du dich wieder einer unzensierten Freude am Essen an und hältst dich nicht, wie in den Jahren zuvor, negativ mit Essen auf.

4. Bedeutet also: rede es dir schön und damit wird’s früher oder später auch wieder spürbar schön – aus dem Kopf zuerst ins Herz und damit schließlich auch zurück ins Leben.

5. Weil du die ehrliche Freude am Essen verlernt oder/und sie dir ausgeredet hast, drehe den Spieß jetzt einfach um und rede dir sie wieder ein. Damit kitzelst du am Ende des Tages wieder die ehrliche Freude aus dir heraus.
Ein Beispiel: Essen zu bestellen war und ist immer etwas Besonderes, deshalb hatte ich mir seit Jahren das erste Mal wieder eine Pizza bestellt. Es ging mir in erster Linie ums Machen, weil die ehrliche Vorfreude in mir einfach noch nicht greifbar/spürbar war. Als die Bestellung dann aber raus war, kam doch etwas Vorfreude auf – und allein dafür hatte es sich gelohnt, denn mein Unterbewusstsein hat sich an gesunde Zeiten erinnert und mich meine natürliche Wahrheit spüren lassen.

6. Wenn du am Essenstisch sitzt, versuche nicht eine vorgerechnete Menge zu essen, sondern allein auf dein Gefühl zu hören. Höre auf, dich mit einer ''Darf-Menge'' einzuschränken. Im Kampf gegen die Essstörung muss man Verbote und Verzichte aus seinem Regelwerk streichen. Erlaube dir, dir selbst zu vertrauen – so stellt sich deine gesunde Mitte ganz von allein ein.

7. Essen ist Freund, nicht Feind: nähere dich dem Essen an, indem du dich bewusst mit dem Essen (z.B. über Kochen und Backen) auseinandersetzt – und damit ist nicht das ungesunde Abwägen der Zutaten gemeint, sondern beispielsweise das Kochen nach Rezept – ohne Reduktionen und Alternativen.

8. Erinnere dich: Was hast du als Kind immer gerne gegessen? Habe ein Date mit deinem inneren Kind und lasst gemeinsam wieder schöne Erinnerungen aufkommen. Gehe am Bäcker vorbei und lass dein inneres Kind aussuchen, was es haben will. Reserviere dir ein Tisch im Restaurant und lass dein inneres Kind auswählen, was es essen möchte.

9. Arbeite deine schwarze Liste ab: bei mir stand z.B. Croissants mit Nutella, Frühlingsrollen und Pommes mit Mayo drauf. Nehme dir jede Woche mindestens eine Sache von der schwarzen Liste vor und stelle dich deiner Angst. Es wird dir leichter fallen, wenn du dich positiv einstellst und dir vor Augen hältst, wofür und für wen du es machst! Je öfter du dich überwindest, desto leichter wird es.

10. Werde vom Nein- zum Ja-Sager: Mach das, was das gesunde Leben von dir verlangt und gebe allen Dingen eine zweite Chance, um dir zu gefallen. Aus einem voreingenommenen „Nein'“ wird so ein unbefangenes „Ja“.
Und das ist auch ein gutes Schlusswort: Sag endlich „Ja“ zum Leben – aus tiefsten Herzen!

 

 

 
 
 
 
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