"Ich bin voller Liebe und gleichzeitig tot"

Wie alles anfing ... (und warum dieses Buch gesund macht)

Hast du schon einmal eine Diät gemacht?
Weil du schlank sein willst, weil du schlank sein musst oder weil sie dir das Gefühl von Sicherheit gibt? Wie lange hast du durchgehalten?
Bei mir waren es zwölf Jahre. Zugegeben, ich hatte meine Anfangsschwierigkeiten, aber letzten Endes habe ich es durchgezogen. Eisern. Skrupellos. Ohne Rücksicht auf Verluste – und ich habe alles verloren.
Mich, mein mitfühlendes Herz, meine innere Wahrheit, die Kunst, frei und unbeschwert zu leben. Kontrolle und Verzicht wurden inkorporiert und die maßregelnde Zwangsjacke immer enger geschnürt.
Die Essstörung hatte mich fest im Griff. Vom teuflischen Imperativ regiert, funktionierte ich nur noch. Aber darum ging es doch ... Oder nicht?
Einwandfrei funktionieren und fehlerlos perfekt sein.
Und am Ende fast tot.
Wäre da nicht die Liebe, die mein abgestumpftes Herz wieder reanimieren konnte. Je mehr Liebe du zulässt, umso schwerfälliger und belastender fühlt sich die Essstörung an. Du willst das alles eigentlich nicht. Und nein, du bist nicht zu schwach dafür. Du kannst wirklich etwas ändern.
Und nur du!
Der Kampf zurück ins Leben war und ist verdammt nochmal schwer, aber mit jeder Überwindung, mit jedem mutigen Schritt wird es leichter. Befreiend!! Ich möchte dir dabei helfen. Meine Erfahrungen mit dir teilen. Dich vor so einem Teufelsritt bewahren oder, wenn du mittendrin bist, dir da raushelfen. Ich weiß, was in dir vorgeht, ich weiß, was dich bewegt und ich weiß, wie paradox eigene Gefühle und wie machtergreifend ungesunde Überzeugung sein können.
Ich möchte Dir meinen, einen möglichen Weg aufzeigen, um die Essstörung zu besiegen. Aber auch all jenen, die im Umgang mit Betroffenen unsicher sind. Und nein, es ist keine der lauten, anklagend-reißerischen Abrechnungen mit falschen Vorbildern und Versprechen. Es ist vielmehr eine leise, meine echte Geschichte aus dem Leben.
Für das Leben. Zurück ins Leben. Komm mit mir!

Leseprobe I (Auszug) / Szene 4: Ein Tag im Februar 2021

Wund gelaufene Füße und blaue Zehen, ein nur durchs Sitzen gereiztes Steißbein, ein hechelndes Herz, ein ständiges Frieren, ein immer kahler werdender Kopf, blaue Flecken auf den Handflächen, plötzliche Schmerzen in den Fingern, schwere Arme beim Haare waschen. Alles kostet mich Kraft – die meiste Energie raubt mir aber der Kopf.

20:30 Uhr, ich bin müde.
Ich liege im Bett und schaue Richtung Fenster. Ich schaue durch die Scheibe. Nirgendwohin.
Ich habe die Decke bis unters Kinn gezogen und warme Socken an den Füßen. Mir ist kalt. Manchmal läuft mir auch die Nase. Ich spüre mein Herz schlagen, wie es sorgenvoll gegen mein Brustbein klopft. Ich spüre es als unruhiges Zittern auf meiner Brust. Es ist beängstigend und gleichzeitig friedvoll still. Ich steigere mich immer mehr hinein und weiß, dass ich mich nur selbst wieder beruhigen kann. Ich atme tief ein und flatterig aus.

Irgendwann, ich weiß nicht wann, schlafe ich endlich ein. Einfach so. Im Vertrauen. Viel mehr bleibt mir nicht. Nachts werde ich wach. Ich bin schweißgebadet, sodass ich mein Oberteil wechseln könnte. Ich quäle mich aus dem Bett - nicht aus Erschöpfung, sondern weil mein Steißbein schmerzt. Ich habe kein Sitzfleisch und es mir deswegen wohl irgendwie beim bloßen Sitzen (anders kann ich es mir nicht erklären) gereizt. Unangenehm.

Ich rolle mich auf die Seite und hieve mich hoch. Unbeholfen setze ich ein Bein vor das andere und schaffe es ins Bad. Ich fühle mich schwach. Das ist auch der Grund, warum ich im Gästezimmer und nicht in meinem alten Kinderzimmer im Dachboden schlafe. Ich will mir die Treppe ersparen und all die Erinnerungen, die jedes Mal hochkommen, wenn ich oben bin. Außerdem fühle ich mich, nur wenige Meter vom Schlafzimmer meiner Eltern entfernt, sicherer. Ich will nicht allein sein.

Auch meine Eltern können ruhiger schlafen, wenn sie mich um sich wissen. Wenn sie nicht im Homeoffice sind und ins Büro müssen, schauen sie vor der Arbeit auch immer noch einmal bei mir im Zimmer vorbei. Meine Mama nähert sich mir dann mit ihrem Gesicht, um zu überprüfen, ob ich noch atme. Um 6 Uhr stehe ich dann meistens auf. Heute ist meine Mama Zuhause und bereits im Nebenzimmer am Arbeiten. Dort hat sie ihren Schreibtisch und sitzt vorm aufgeklappten Laptop. Ich schaue zu ihr rein und sage leise „Guten Morgen“.

Ihrem liebevollen Blick weicht Trauer. Es zerreißt ihr jedes Mal das Herz, mich so abgemagert zu sehen. Aber sie reißt sich zusammen und erwidert mein „Guten Morgen“. Ich gehe ihr besser aus dem Weg, denn es tut weh, mit ihrem sorgenvollen Blick konfrontiert zu werden. Ich will nicht angesprochen werden. Es ist gerade einfach so, wie es ist. Kann die Zeit nicht beschleunigen, muss es aber aushalten, dass es für meine Eltern einfach nicht schnell genug gehen kann.

Ich gehe ins Bad. Anstatt zu duschen, muss ich in die Badewanne, um mich schmerzfrei waschen zu können. In der Wanne kann ich den Wasserverlauf besser kontrollieren, denn es darf kein Wasser auf meine offenen Stellen an den Zehen gelangen - es würde höllisch brennen. Also knie ich mich hin, die Füße sind nach hinten gestreckt. Mit dem Duschkopf mache ich mich vorsichtig nass, seife mich schnell ein und dusche mich danach noch einmal kalt ab, um wach zu werden.
Wenn ich meine Haare nicht waschen muss, bin ich jedes Mal froh. Meine Arme sind einfach zu schwach, um sie über den Kopf zu halten. Trotzdem ist die Prozedur noch nicht vorbei: Jetzt kommt das Desinfizieren, Eincremen (mit Betadona Wundsalbe) und Bandagieren meiner beiden großen Zehe, die ich mir bei meinen täglich mehr als 10.000 Schritten wund gelaufen habe.

Das Verarzten dauert jeden Morgen und Abend jeweils fast 30 Minuten. Mein zweiter Zeh des linken Fußes ist jedoch mein eigentliches Sorgenkind, da die Wunde einfach nicht heilen will und immer noch entzündet ist. Deswegen nehme ich auch seit über zwei Wochen Antibiotika, denn die Entzündung darf nicht weiter Richtung Knochen wandern. Mein Arzt meinte sogar zu mir, dass man mir meinen Zeh im Zweifelsfall amputieren muss. Das macht mir Angst. Und ehrlich gesagt, bin ich froh, diese Angst zu spüren. Also wird fleißig desinfiziert, gecremt, bandagiert und Antibiotika geschluckt.

Enge Socken geschweige denn enge Schuhe kann ich auch erst einmal nicht mehr tragen. Also wandere ich selbst bei zweistelligen Plusgraden mit Winterboots umher. Und gerade bemitleide ich mich einfach nur selbst dafür. So kann es buchstäblich nicht weitergehen!




 
 
 
 
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